„Im Frühsommer des Jahres 1944 kam in meine Ordination ein älterer Mann mit dem Judenstern. Ich nahm ihn vor, um den Patienten nicht „zuzumuten“, mit einem solchen Menschen in einem Raum weilen zu müssen. Er stellte sich vor: „Dr. Lipot Fisch, der Arzt des ungarischen Judentransportes, der kürzlich in der Kartoffelverwertungs-AG zur Arbeit eingesetzt wurde. Ich würde bitten, ob sie mir eine Venenpunktionsnadel für einen Patienten mit Schlaganfall leihen würden.“ Ich gab ihm die Hand und die Nadel und fragte ihn, „Herr Kollege, was kann ich sonst noch für sie tun?“ Verwirrt und glücklich nach alldem Bisherigen als Mensch und Kollege angesprochen zu werden, bat er um eine Zigarette. Ich brachte ihm aus der Wohnung alle Zigaretten, die ich hatte, und beauftragte ihn, an jedem Freitag nach Arbeitsschluss mir über den Gesundheitszustand des Lagers zu berichten. In Wirklichkeit saßen wir an diesen Abenden beisammen und meine Frau kochte, was an Gutem damals noch aufzutreiben war. In einem Kofferl trug er jedesmal ins Lager, was er und seine Schicksalsgenossen benötigten: Medikamente, Lebensmittel, Zigaretten, Kleidungsstücke.
Inzwischen war es Spätherbst geworden und mir wurde mitgeteilt, dass, wenn die Front an unsere Grenzen herangerückt sei, die Juden zwecks Endlösung in ein KZ transportiert würden. Ich selbst würde als Amtsarzt am Vortag davon verständigt werden. Unterdessen war längst aufgefallen, dass der Judenarzt meist eine Stunde bei mir verweilte, und er bekam Ausgehverbot. Ich selbst solle mich telefonisch oder an Ort und Stelle über die sanitäre Lage orientieren. Mit Dr. Fisch hatte ich zwischenzeitlich vereinbart, wenn ich vom Abtransport Kenntnis erhalten werde, ihm persönlich oder telefonisch die Frage zu stellen: Wie geht es dem Patienten mit Varicellen (Feuchtblattern)? Auf dieses Codewort sollte er mit zwei Schicksalsgenossen, die er aussuchen sollte, noch in derselben Nacht durch eine Hintertüre, die dann offenstehen würde, fliehen und über ein mehrere hundert Meter langes Wiesenstück laufen und sich in einem dort beginnenden Jungwald verstecken. Ich hatte unterdessen mit dem Amtstierarzt Dr. Krisch ausgemacht, dass er in dieser Nacht dort durch ein Hupsignal die Flüchtlinge avisieren und in das vorbereitete Versteck bringen sollte. Als Versteck hatten wir mit dem Gerbermeister Johann Weissnsteiner in Hoheneich vereinbart, dass er sie in einem abseits gelegenen Rohbau verstecken sollte.
Unterdessen war ein äußerst strenger Winter hereingebrochen, als ich am 23.12.1944 plötzlich die Nachricht bekam, dass ein Transport von 1700 ungarischen Juden in Gmünd eingetroffen sei und in einem Getreidespeicher untergebracht worden war. Ich eilte hin und musste eine Situation erleben, die ich nie werde vergessen können: Bei tiefen Minusgraden lagen dort in dem riesigen Lagerraum auf schütterster Strohlage auf dem Betonboden 1700 Menschen in mangelhafter Bekleidung. Ein einziger Koksofen befand sich in der Mitte des Raumes. Als leitender Arzt stellte sich ein gewisser Dr. Darvas vor, der jedoch keinerlei Medikamente oderärztliche Hilfsmittel zur Verfügung hatte. Er führte mich durch die Reihen der Menschen, die alle zu Skeletten abgemagert dort lagen. Fast alle litten an ruhrähnlichen Durchfällen. Alle Augenblicke drehten sich einige von ihnen um die Längsachse, streiften ihr Gewand herunter und setzten ihre wässrigen Stühle ab. Auf diesem Rundgang nannte mir der Arzt die verschiedensten Berufe der Kranken und Namen bekannter Wissenschaftler, Schauspieler oder sonstiger führender Persönlichkeiten des öffentlichen ungarischen Lebens. Ich kam einmal gerade dazu, wie der Kreisleiter namens Lukas einige uniformierte Gäste – sogenannte Goldfasane – herumführte und bei solchen Szenen bemerkte: „Da sehen sie, was für Schweine das sind.“ In Wirklichkeit waren diese Menschen zu schwach, um auf die vor dem Lager aufgebaute Latrine zu gehen. Zunächst konnte ich erwirken, dass ein Waggon Stroh zur Verfügung gestellt wurde. Was ich an Tierkohle oder anderen Darmmedikamenten beschaffen konnte, war naturgemäß für 1700 Personen völlig unzureichend. Unsere gesamte Weihnachtsbäckerei, die meine Frau in ein relativ kleines Paket verpackte, das ich irgendwo im Lager fallen ließ, war natürlich ebenfalls nur ein symbolischer Akt, der die Ernährung der Gefangenen – Rübenwasser und eine Schnitte Brot – keineswegs aufbessern konnte.
Erschütternd bleibt mir in Erinnerung eine Szene: Eine Gruppe von etwa 15 jungen Mädchen, die sich, um nicht auch angesteckt zu werden, in einer Ecke zusammengedrängt hatten, bot sich immer wieder als völlig gesunde Arbeitskräfte an. Sie konnten nicht verstehen, dass man im Krieg auf solche verzichten konnte. Das Herz tat mir weh, diese jungen Mädchen nicht dem Tod entreißen zu können. Und doch blieb von diesen 1700 Personen 485 das bittere Los der Vergasung in einem KZ erspart, die zwischen dem 23.12.1944 und dem 16.2.1945 in 55 Tagen, also etwa 10 pro Tag über und über von ihren eigenen Ausscheidungen verschmutzt, sterben mussten. Am 16. Feber 1945 erhielt ich die Nachricht, dass am nächsten Morgen der Abtransport aller Juden aus beiden Lagern erfolgen sollte. Ich fuhr sofort in die Baracke, in der sich die kranken Juden aus der Kartoffelverwertung befanden. Am Ende meines Rundganges in Anwesenheit des SA-Kommandanten Schässl stellte ich die beiläufig hingeworfene Frage nach dem Zustand des Varicellen-Patienten. Auf dieses Codewort wurde Dr. Fisch vor Aufregung blass, was unbemerkt blieb. Die Stunde null war also gekommen. Für uns, die den Plan ausgeheckt hatten und unsere drei Kinder, vor allem aber für die ausgewählten Helfer begannen Schicksalsstunden unserer Existenz. Um 1/2 6 Uhr früh läutete bei mir das Telefon. Zu meinem Entsetzen war Dr. Fisch am Apparat. „Von wo sprechen sie?“ – „Vom Bahnhof! Wir wurden nicht abgeholt, kann ich sie sprechen?“ Tatsächlich hatten sich Dr. Kirsch und die drei Flüchtlinge, sie waren zu weit in den Wald gelaufen, verfehlt. Jetzt musste das Wahnsinnige bei helllichtem Tag versucht werden. Dr. Kirsch holte die beiden anderen aus dem Wald und ich brachte Dr. Fisch in meinem Auto auf Nebenwegen in das vorbereitete Versteck [auf dem Dachboden der Weißgerberei Weißensteiner in Hoheneich]. Dort hafte sich zwischenzeitlich der zum Tode verurteilte Bruder des Gerbermeisters, der Geistliche und Komponist Raimund Weissensteiner, eingefunden, der im Gebiet von Zwettl entfliehen konnte. So weit, so unerwartet gut. Kein Mensch dürfte unsere Aktion beobachtet haben. Wohl hatte große Aufregung beim Abtransport geherrscht, und der SA-Kommandant äußerte: „Da steckt nur der Lanc dahinter. Der ist immer mit dem Fisch unter einer Decke gesteckt. Aber wenn ich den erwische, lege ich beide eigenhändig um.“ Der Nachweis gelang ihm aber nicht, und am 9. Mai, dem Eintreffen der Russen, konnten wir alle aufatmen. Die Vier marschierten in unsere Wohnung und Raimund Weissensteiner setzte sich an den Flügel und, während sich wegen der Russen alle Menschen nicht aus den Häusern wagten, erklang aus unseren wegen der Hitze geöffneten Fenstern ein improvisiertes Halleluja fortissimo in die von den Nazischrecken erlöste Welt hinaus.“